Mozartkugel mit Spezialfüllung
Text: Ernst Hofacker, Lars Thieleke | Fotos: Philipe Guinard, Nicolas Grosmond, Boegly+Grazia / Architectes Shigeru Ban & Jean de Gastines
Architect’s Darling, Systementwickler’s Meisterstück: La Seine Musicale ist das neue Musikkulturzentrum von Paris. Die französische Stardirigentin Laurence Equilbey verrät, wie es sich anfühlt, regelmäßig mit ihrem Orchester darin zu arbeiten. Was man dem Gebäude nicht ansieht: Das Fassadensystem musste innerhalb nur eines Jahres von null an spezialentwickelt und umgesetzt werden.
„La Seine Musicale ist für mich pure Inspiration. Die künstlerischen Werte meines Orchesters lauten Exzellenz, Innovation und Offenheit – sie stimmen perfekt mit denen des La Seine Musicale überein. Das Gebäude ist lichtdurchflutet, seiner natürlichen Umgebung geöffnet und so klar im Ausdruck.“ Laurence Equilbey muss es ja wissen. Immerhin trägt sie den französischen Verdienstorden, obendrein den Ordre des Arts et des Lettres, sie leitet das Insula orchestra und gab mit ihm eines der Eröffnungskonzerte am La Seine Musicale.
Wie ein Schiff thront das neue Musikkulturzentrum von Paris über dem Fluss, dort auf der Île Seguin, dem ehemaligen Betriebsgelände des Autobauers Renault. Gekrönt wird es von seiner gigantischen, mit einer wabenförmigen Konstruktion aus Holz und Glas verkleideten Muschel des Auditoriums – dem Konzertsaal für 1.150 Zuschauer. Der Clou dabei: eine Art Sonnensegel, das die Muschel mit einer 800 m2 großen Photovoltaik-Anlage analog zum jeweiligen Stand der Sonne umkreist. Durch jene ungewöhnliche Muschelform gilt es schon jetzt als Wahrzeichen des Pariser Bezirks Hauts-de-Seine. Neben dem Auditorium steht mit dem La Grande Seine ein weiteres Venue für sogar 6.000 Zuschauer bereit, und auf den insgesamt 36.500 m2 des „Muscheltempels“ sind zudem Tonstudios, Seminar- und Proberäume, eine Musikschule und nicht zuletzt genügend Gastronomie-Angebote für die Besucher untergebracht. Michel Sardou und Bob Dylan haben La Seine Musicale bereits die Ehre erwiesen, und auch Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“ hat hier schon gastiert.

Zum Glück sieht man einem Gebäude die wahren Anstrengungen während seiner Entstehung nicht an. Fragt man Stefan Sepp, Prokurist und Leiter Forschung & Entwicklung bei RAICO und verantwortlich für das Fassadensystem von La Seine Musicale, worin bei diesem Projekt seine größte
Herausforderung lag, atmet er lange und tief in den Bauch. Dann sagt er: „2015 hatte bereits ein französischer Systementwickler eine Komplettplanung erstellt. Ein Sondersystem mit Sonderprofilen, Dichtungen und allem. Kurz: Das System funktionierte jedoch nicht. Daraufhin ging der Auftrag an den Verarbeiter MTECH BUILD. Das heißt, die standen in Paris mit einem Sonderbauvorhaben, brauchten Sonderzulassungen in Frankreich, und wussten nun einfach nicht mehr weiter. So kam es, dass wir um Hilfe gebeten und gefragt wurden, ob wir dieses Projekt mit den entsprechenden Qualitätsstandards in kürzester Zeit und im Rahmen des geplanten Budgets fertigstellen können.“

In Paris lagen die Nerven blank. Stefan Sepp und sein Team hatten ab dem ersten Gesprächstermin mit dem Generalunternehmer gerade mal ein Jahr Zeit. Noch dazu war klar, dass sich die Baustellenabwicklung und Montage auf der Seine-Insel extrem schwierig gestalten würden. Stefan Sepp: „Unser Partner, die Verarbeitungsfirma MTECH BUILD, lagerte das Baumaterial in schwimmenden Frachtkähnen in Reichweite der Kräne. Das Ganze geschah auf allerengstem Raum. Der Gerüstbauer musste immer abwechselnd zehn Meter höher, zehn Meter tiefer bauen, damit die Kugelform nach und nach mit Profilen versehen werden konnte. Zu Spitzen arbeiteten 50, 60 Monteure auf der Baustelle.“
Stefan Sepp entschied sich mit seinem Team dafür, komplett bei null anzufangen und ein ganz eigenes System für La Seine Musicale zu entwickeln, das sich den gegebenen Verhältnissen der bereits montierten Unterkonstruktion an Ort und Stelle anpasst: „Wir haben in dem ganzen Bauvorhaben keine fünf Serienteile verwendet. Die Profile, die wir neu entwickelt haben, beruhen auf den Grundprinzipien unseres THERM+ Systems, wurden aber ganz individuell angepasst: Kein Element war waagerecht, sondern alles ging nach hinten weg, durch die Schrägen haben die Dichtungen Konturen nach innen bekommen. Wir haben sie etwas weicher ausgeführt, damit die Scheibe besser anliegt. Die wichtigste Frage war: Wie schaffen wir es, für den Wasserablauf ein vernünftiges Dichtungssystem zu bauen? Unsere Lösung: drei Ebenen und die Entwässerung über die Fahne im Äquatorbereich.“

Rock me, Amadeus! Während des Baus sah Laurence Equilbey das werdende La Seine Musicale in unterschiedlichen Phasen aus der Ferne. Sie sagt, die Ästhetik des Gebäudes mit seinem klaren, übergangslosen Design und dem Segel faszinierten sie bei Tag und bei Nacht. Am 22. April 2017 durfte sie La Seine Musicale eröffnen. Für die Dirigentin ging ein Traum in Erfüllung. Nun tritt sie regelmäßig mit ihrem Insula orchestra und ihrem Kammerchor accentus dort auf und dankt dem Département des Hauts-de-Seine für sein Engagement: Die Entscheidung, Staatsmittel in Kultur und vor allem in Musik zu investieren, hat Paris neben der Philharmonie und dem Auditorium von Radio France einen Konzertsaal beschert, in dem vor allem Festivals und unübliche Themen stattfinden. Wie gemacht für ihr Orchester, mit dem sie innovative Bühnenproduktionen zwischen Musik, Visual Arts und Zirkusdarbietung entwickelt.

Mit welcher Komposition eröffnet man einen derart schillernden und bedeutsamen Ort, Madame Equilbey? „Mit Überraschungen und einem Statement“, entgegnet sie. „Genau gesagt, mit Mozarts ‘La Finta Giardiniera’, das ich in seiner deutschen Version ‘Die Gärtnerin aus Liebe’ sehr interessant finde. Es deutet Elemente aus ‘Die Zauberflöte’ an und bietet im deutschen Text eine starke Dynamik. Wir haben den Gesang von Deutsch über Italienisch und Französisch bis hin zu Englisch variiert. Ein eindeutiges Bekenntnis für Offenheit und Gleichberechtigung.“