Das bewegte Gebäude
Text: Ernst Hofacker | Illustration: Jan Reiser
Swinging Sixties, Beatles, Carnaby Street – und einer der ersten Wolkenkratzer Großbritanniens: Als im Sommer 1966 mitten in Londons City der 117 Meter hohe Centre Point fertiggestellt war, stand er für den Aufbruch in eine neue Zeit. Popstars wie David Bowie posierten vor ihm, Hausbesetzer übernahmen ihn, und nach seinem Umbau verkörpert er seit 2018 erneut den Geist der Zeit. Was dieses Gebäude alles erlebt hat.
Was das wohl werden soll? So mancher Londoner wird sich das gefragt haben, als im Jahr 1961 die Bauarbeiten auf dem Gelände nahe der Subway-Station Tottenham Court Road, also mitten in London, begannen. Andererseits waren Großbaustellen in der von den Kriegsfolgen gezeichneten Themsemetropole, in deren Bebauung auch zwei Jahrzehnte nach Hitlers Bombardements noch riesige Lücken klafften, an der Tagesordnung. Der Immobilien-Tycoon Harry Hyams jedoch wusste sehr wohl, was das werden sollte: Ein echter Wolkenkratzer und damit ein Projekt, das sich voll und ganz im Einklang mit dem Zeitgeist befand. Denn der stürmte vorwärts, in die Zukunft, in die Moderne. Und er war beseelt von grenzenlosem Optimismus.
Aufbruchstimmung inmitten der Beatlemania
Die Geschichte des Centre Point beginnt bereits in den späten 1950er-Jahren. St. Giles Circus ist schon damals einer der Verkehrsknotenpunkte in Londons City. Und die Stadtverwaltung will den Platz neugestalten. Interessenten kommen und gehen, übrig bleibt Harry Hyams mit seiner Firma Oldham Estates Co. Man verhandelt zäh, die Behörden knüpfen die Baugenehmigung an Bedingungen. Unter anderem verlangt man eine neue Zufahrtstraße und breitere Verkehrswege. Hyams beauftragt die Architekten George Marsh und Richard Seifert mit der Planung. 1959 entsteht ein erster Entwurf, 1961 dann beginnen die Bauarbeiten am neunstöckigen Nebenblock. Die Genehmigung für den westlich davon gelegenen 34-stöckigen Tower erfolgt im Januar 1963. Drei Jahre wird es nun dauern, bis der markante Betonfinger im Herzen Londons zu seiner vollen Größe emporgewachsen ist.
Exakt in jener Zeitspanne wird London zum Nabel der jungen Popkultur. 1963 überschwemmt die Beatlemania erst Großbritannien, bald darauf auch den Rest der Welt. Von Monat zu Monat wird die Stadt nun bunter. Überall tut sich was: Kunst, Mode, Literatur und Fotografie setzen neue Akzente in Alltagsleben, Stadtbild und Medien. Andy Warhols Pop-Art ist das Ding der Stunde, James Bonds Aston Martin DB5 der coolste Sportflitzer aller Zeiten, und das Fernsehen, so ist zu hören, soll bald in Farbe senden. Mary Quants Minirock erobert die Modewelt, das dürre Londoner Model Twiggy den Laufsteg, und aus allen Lautsprechern tönt die neue Popmusik mit Songs wie „A Hard Day’s Night“, „You Really Got Me“ und „My Generation“. Neben den Fab Four beherrschen die Rolling Stones, die Kinks und The Who die Airwaves – Pop made in Swinging London.
Brutalismus im Herzen Londons.
Als der Centre Point 1966 vollendet ist, wird er aus dem Stand zum Symbol seiner Zeit. Der Star-Architekt Ernö Goldfinger, durch seine klaren, nüchtern-rationalen Entwürfe berühmt geworden als einer der kreativsten Vertreter der architektonischen Moderne, nennt den Centre Point „Londons ersten Pop-Art-Skyscraper“ – der Stil geht unter dem Namen „Brutalismus“ in die Architekturgeschichte ein. Und Goldfinger schwärmt: „Wie die Beatles und Mary Quant steht das Gebäude für höchstes Vertrauen in das Prinzip purer Professionalität.“
Es ist der Sommer, in dem die Fans der englischen Fußballnationalelf deren bis heute einzigen Weltmeistertitel, errungen im Wembley-Stadion beim legendären Finale vom 30. Juli (4:2 n.V.), begießen. Zum Beispiel im „The White Lion“-Pub, Ecke Denmark St. und St. Giles High St. Wer von hier die paar Schritte zur Tube hinter sich bringt und dabei einen Blick in den nächtlichen Himmel wirft, sieht über sich in schwindelnder Höhe drei Meter große Neon-Buchstaben leuchten: An der Spitze des Kolosses bilden sie die stolzen Worte „Centre Point“, zu lesen sind sie noch auf der anderen Seite des „dirty ol’ River“ Thames. Vielleicht dringt dem nächtlichen Spaziergänger in diesem Moment auch noch aus irgendeinem Radio „Sunny Afternoon“ ins Ohr – der Kinks-Song ist in jenen Wochen die Nummer eins der englischen Charts.
Hausbesetzer entern den Centre Point
Nach anfänglicher Skepsis haben die Londoner ihr neues Wahrzeichen bald ins Herz geschlossen. Zu ihnen gehört auch der junge David Bowie, dessen Karriere gerade erst beginnt – vor der Kulisse des Centre Point lässt er sich 1967 für ein Promotionfoto ablichten. Ein paar, auch für die Weltmetropole London, ungewöhnliche Zahlen: Der Bau des Towers verschlang die seinerzeit astronomische Summe von 5,5 Millionen Pfund, die insgesamt 34 Etagen türmen sich auf 117 Meter Höhe und bieten eine Gesamtfläche von 27.180 Quadratmetern.
Nur: Was anfangen mit dem Ding? Immobilien-Tycoon Hyams hat da so seine Vorstellungen. Nachdem er der Stadt das riesige Grundstück für eine auf 150 Jahre festgeschriebene Pacht von 18.500 Pfund pro Jahr abgeschwatzt hat, will er die 34 Etagen des schlüsselfertigen Palastes nun nicht etwa separat vermieten – nein, er möchte nur einen einzelnen Mieter akzeptieren. Und den findet er nicht. Also lässt er den Centre Point leerstehen, er kann sich’s leisten. Was bald schon Ärger gibt. In London mangelt es Ende der 1960er-Jahre an Wohnraum, vor allem an erschwinglichem, und so wird der leerstehende Centre Point nach und nach zum Politikum und zur Beton gewordenen Provokation. Bald treten die ersten Bürgerinitiativen auf den Plan und verlangen vom konservativen Premierminister Edward Heath, dass seine Regierung das Gebäude übernimmt und für Wohnzwecke zur Verfügung stellt. Ihren Höhepunkt erreichen die Proteste, als der Turm im Januar 1974 von einer Aktivistengruppe besetzt wird, der auch zwei Männer des Centre-Point-Sicherheitsdienstes angehören. Über dem Eingang prangt nun der Slogan „Homes not offices!“. Tatsächlich erklärt sich Harry Hyams unter dem Druck der Heath-Administration und der öffentlichen Meinung dazu bereit, die Stockwerke einzeln zu vermieten. Bis es allerdings so weit ist, vergehen weitere Jahre.
Meisterwerk der Moderne
1980 dann bezieht der britische Industrieverband seine Büros im Centre Point. Er wird dort bis zum März 2014 bleiben. Neun Jahre zuvor, im Jahr 2005, wird der im längst veränderten Londoner Stadtbild noch immer markante Wolkenkratzer für 85 Millionen Pfund an den Investor Targetfollow verkauft. 2011 schon veräußert die Firma das Objekt für rund 120 Millionen weiter an den englischen Immobilienriesen Almacantar – mit stolzen 48 Prozent Gewinn. Almacantar erarbeitet nun ein neues Nutzungskonzept und beginnt 2015 mit dem Umbau des inzwischen ehrwürdigen und seit 1995 als „besonders bedeutendes Bauwerk“ unter Denkmalschutz stehenden Centre Point. 2018 erstrahlt das Gebäude in neuem Glanz und beherbergt endlich auch Privatleute, allerdings gut betuchte: Die Architektenbüros Conran & Partners und Rick Mather erhalten den Auftrag, die 34 Etagen in 82 Luxuswohnungen plus Pool, Fitness-Area und nobler Penthouse-Bar umzugestalten – der durchschnittliche Verkaufspreis der 1- bis 5-Zimmer-Appartements beträgt 3,2 Mio. Pfund. Dazu wird ein benachbarter Block mit 13 Wohnungen auch für eine finanziell weniger potente Kundschaft ausgestattet und der Platz rund um den Centre Point neu gestaltet.
Stand der Centre Point dereinst für den Aufbruch der Swinging Sixties in die kulturelle Moderne, so wird er im neuen Millennium die Finanzmetropole London des Post-Brexit-Zeitalters symbolisieren. Kathrin Hersel, Entwicklungsdirektorin von Almacantar, formuliert die Philosophie des Bauvorhabens: „Wir werden den Centre Point zu einer Adresse machen, auf die Londoner stolz sein können. Das Projekt wird neues Leben in dieses Viertel bringen und ihm zum Nutzen Londons und seiner Besucher eine nachhaltige, aufregende Zukunft bescheren.“ Derweil schwärmt Conrans Managing Director Tim Bowder-Ridger: „Der neue Centre Point wird seinen Platz als einer von Londons geschätztesten Design-Klassikern behaupten – ein Meisterwerk der Moderne im Herzen einer großartigen, kreativen Stadt!“ Der Mittelpunkt des Königreichs.
800 Elemente und ein Sandwich
Bei der Komplettsanierung des Centre Point standen optische Anforderungen eines 1960er-Jahre-Hochhauses gegen technische und bauphysikalische Anforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Lösung für die Fassade: das RAICO-Standardsystem THERM+ A-V, ergänzt um einen schlanken Sandwich-Rahmen. Dieser ermöglichte einen sehr hohen Vorfertigungsgrad und berücksichtigt die genannten Anforderungen ideal. Zur Be- und Entlüftung sowie zur Entrauchung in den Treppenhäusern wurden nach außen öffnende Senk-Klapp- bzw. Schiebe-Dreh-Fenster in Ganzglasoptik in die Fassadenkonstruktion integriert.