Story

Moderne Umarmt Spätgotik
Text: Nina Pöltl | Fotos: Gustavs & Lungwitz, Hunsrücker Glasveredelung Wagener GmbH & Co. KG, glasfaktor Ingenieure GmbH

Prof. Dr.-Ing. Gerhard Glaser ist Zeitzeuge, Architekt und ehemaliger Landeskonservator von Sachsen. Über Jahrzehnte hinweg kämpfte
er zuerst für den Erhalt der ältesten gotischen Kirche Dresdens und dann, nach deren Vernichtung, für eine angemessene Erinnerung. 2019 wird die „Gedenkstätte Sophienkirche“ eröffnet. Ein architektonisches Meisterwerk, bei dem die abstrahierte Busmannkapelle von einer riesigen gläsernen Vitrine umhüllt ist. Eine spezielle selbsttragende Glaskonstruktion machte es möglich, eine ebenmäßige Außenfassade zu schaffen.

Fünf abstrakte Pfeiler ragen wie Mahnmale aus dem Nichts. Sie wurden an der Stelle errichtet, an der einst fünf Strebepfeiler die zweischiffige Sophienkirche stützten.
Fünf abstrakte Pfeiler ragen wie Mahnmale aus dem Nichts. Sie wurden an der Stelle errichtet, an der einst fünf Strebepfeiler die zweischiffige Sophienkirche stützten.

Es ist der 13. Februar 1945 als ein nächtlicher Feuersturm durch Dresden fegt und die Barockstadt auf einer Fläche von 15 Quadratkilometern dem Erdboden gleich macht. Über 20.000 Menschen sterben, große Teile der Innenstadt werden zerstört: Frauenkirche, Semperoper, Zwinger, Albertinum und Residenzschloss brennen lichterloh. Auch die Sophienkirche, die älteste gotische Kirche Dresdens aus der Zeit um 1350 und die um 1400 angebaute Busmannkapelle trifft die Wucht der Zerstörung bis ins Mark. Dennoch gilt sie nach dem 2. Weltkrieg als eine der am besten erhaltenen Denkmalruinen der Elbmetropole.

Die Bevölkerung, ganze Fakultäten der Technischen Hochschule bis hin zum damaligen Volkskammerpräsidenten der DDR setzen sich massiv für deren Erhaltung ein. Kurzzeitig steht die Sophienkirche sogar an zweiter Stelle einer 40 Positionen umfassenden Liste der unter Denkmalschutz stehenden Ruinen. Als sich Walter Ulbricht, Generalsekretär der SED, in die Sache einmischt, verschärft sich die Lage dramatisch. Ulbricht war damals damit beschäftigt, den stalinistisch geprägten Sozialismus in der DDR aufzubauen. Eine christliche Lebensauffassung passte nicht in das atheistisch und antihistorisch geprägte Weltbild. 1960 entfernt er die Sophienkirche ostentativ aus dem Stadtmodell von Dresden.

Verhindert den Abbruch der Sophienkirche, ehe es zu spät ist! Dieses Flugblatt brachte Prof. Gerhard Glaser 1962 hinter die Mauern der Stasi
Verhindert den Abbruch der Sophienkirche, ehe es zu spät ist! Dieses Flugblatt brachte Prof. Gerhard Glaser 1962 hinter die Mauern der Stasi

Auch der junge Gerhard Glaser wird aktiv. Noch ist es nicht zu spät! Er ist 25 Jahre alt, hat gerade sein Architekturstudium an der TU beendet und arbeitet seit wenigen Monaten als Architekt in der Zwingerbauhütte. Seine Aufgabe war es, das stark beschädigte Albertinum, welches heute Teile der Staatlichen Kunstsammlungen Dresdens mit einzigartigen Kunstschätzen aus der ganzen Welt beheimatet, wieder mitaufzubauen. Mit einer Flugblattaktion versucht er 1962 den Abriss der Denkmalruine zu verhindern und stellt sich damit gegen die Ideologie des DDR-Regimes. Zusammen mit drei ehemaligen Kommilitonen und unter Mithilfe einiger Studenten verteilt er Flugblätter in Briefkästen kulturpolitisch einflussreicher Leute. Eine Aktion mit Konsequenzen: Gerhard Glaser und sein Kollege Hermann Krüger sitzen gerade in der Zwingerbauhütte an ihren Zeichenbrettern, als die Türe zum Zeichensaal plötzlich geöffnet wird.

 

Nach dem 2. Weltkrieg galt die Sophienkirche als eine der am besten erhaltenen Denkmalruinen von Dresden
Nach dem 2. Weltkrieg galt die Sophienkirche als eine der am besten erhaltenen Denkmalruinen von Dresden

Zwei gut gekleidete Herren betreten den Raum. Sie weisen sich als Mitarbeiter der Stasi aus. Die beiden Architekten werden höflich gebeten, ihnen zu einer Befragung zu folgen. Gerhard Glaser geht in diesem Moment davon aus, dass sein Einsatz für den Denkmalschutz mit eineinhalb Jahren Haft bestraft wird. „Als sie dann bei den Verhören aus meinen beschlagnahmten Tagebüchern vorlasen, habe ich in Gedanken ein weiteres Jahr Haft dazu getan. Nach endlosen zermürbenden Verhören – bis weit nach Mitternacht – fiel dann plötzlich der Satz: ‚Wir können das alles abschließen, wenn Sie in Zukunft mit uns zusammenarbeiten.’ Am nächsten Morgen gegen 5 Uhr ging auf einmal die Zellentüre auf und ich wurde entlassen. Mit allem habe ich gerechnet, bloß nicht damit, so schnell wieder freigelassen zu werden. Erst zehn Jahre später habe ich erfahren warum“, erinnert sich Prof. Glaser.

Es war der damalige Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen und ein Stalinist wie er im Buche Stand: Max Seydewitz. Er hatte die Aufgabe, die Unterbringung der aus der Sowjetunion zurück gekommenen Kunstschätze zu organisieren und auch im Albertinum aufzubauen. Noch in der Nacht der Verhaftung rief er beim Chef der Stasi an und sagte: „Wenn die zwei Kerle nicht morgen wieder an ihren Brettern sitzen, dann bin ich bei Kurt Hager.“ Das war nach Walter Ulbricht der nächstwichtigste Mann in der DDR. Seydewitz’ Projekt, das Albertinum aufzubauen, wäre ohne die beiden jungen Architekten zum Erliegen gekommen – nur deshalb kamen sie so schnell wieder frei.

Prof. Gerhard  Glaser besitzt  Kopien seiner Verhörprotokolle
Prof. Gerhard Glaser besitzt Kopien seiner Verhörprotokolle

Letztlich sind alle Bemühungen ohne Erfolg. In einem kulturbarbarischen Akt wird die rekonstruktionsfähige Ruine bis 1963 abgerissen. Am Ende blieb von der Busmannkapelle nicht mehr übrig als ein paar Werksteine der Südfenster, der Altar, vier Konsolsteine sowie Teile von Gewölbeansätzen. In den Jahren danach errichtet man auf dem Areal der Sophienkirche den größten Gaststättenkomplex in Dresden – den „Fresswürfel.“

Walter Ulbricht  entfernt die Sophienkirche aus  dem Stadtmodell  von Dresden (1960)
Walter Ulbricht entfernt die Sophienkirche aus dem Stadtmodell von Dresden (1960)

Das Thema Denkmalschutz zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Prof. Glaser. Schon bald ist er stellvertretender Leiter der Bauabteilung des Instituts für Denkmalpflege. Mitte der 70-er Jahre baut er den Spezialbaubetrieb „VEB Denkmalpflege“ mit auf, wird 1982 Chefkonservator im Institut für Denkmalpflege und verantwortlich für das alte Land Sachsen, das 1990 restituiert wird. Erst nach der Wende kann er den Kampf für die Sophienkirche wieder aufnehmen. 1998 wird er für sein außerordentliches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Die unzerstörte Sophienkirche; abstrahierte Teile in rot
Die unzerstörte Sophienkirche; abstrahierte Teile in rot

Eine angemessene Erinnerung an die älteste gotische Kirche der Stadt muss geschaffen werden! Nach der Wende nahm Prof. Glaser sofort mit den neuen politischen Kräften der Stadt Verbindung auf. Die 1999 gebildete „Bürgerstiftung Dresden“ und die ein Jahr zuvor gegründete Fördergesellschaft schaffen es mit viel Engagement, die Sophienkirche wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Heute ist die „Bürger­stiftung Dresden“ Bauherr der „Gedenkstätte Sophienkirche“, die 2019 nach fast 25-jähriger Planungs- und Bauzeit fertig gestellt werden soll. 

Entwurf Bauantrag von Siegmar Lungwitz, Architekt BDA (2008)
Entwurf Bauantrag von Siegmar Lungwitz, Architekt BDA (2008)

Der Entwurf des Architekturbüros Gustavs & Lungwitz erhielt 1995 im Ideenwettbewerb den 1. Preis. Die im Original erhaltenen Architekturfragmente der Busmannkapelle sind durch die Abstraktion der Kapelle in Sichtbeton wieder in ihre alte räumliche Beziehung gesetzt: dazu gehören die Fensterfragmente sowie die Portraitbüsten von Lorenz Busmann und seiner Frau, nach denen die Busmannkapelle benannt war. 

Dort, wo früher die Sophienkirche stand, erinnert heute der eingepflasterte Grundriss an deren Vernichtung. Fünf abstrakte Pfeiler ragen wie Mahnmale aus dem Nichts. Sie wurden an der Stelle errichtet, an der einst die südlichen fünf Strebepfeiler die zweischiffige Hallenkirche stützten. Die Struktur des früheren Kreuzrippengewölbes ist durch Metallprofile nachgebildet. Im Untergeschoss befindet sich der „Raum der Stille“, in dem zwei große Steine aus dem Gründungsbauwerk der  Sophien­kirche, 12 Grabplatten aus dem 17. Jhd. sowie Verblendsteine aus dem Kircheninnenraum ausgestellt sind. Eine gläserne Hülle mit einer Höhe von 13,5 m und einer Grundfläche von 22 m x 12 m umschließt das Mahnmal.

RAICO Sondersystem auf Basis der THERM<sup>+</sup> S-I Stahlfassade
RAICO Sondersystem auf Basis der THERM+ S-I Stahlfassade
Die übergroße Vitrine von Innen

Die gläserne Hülle in Form einer übergroßen Vitrine war eine Heraus­forderung an die Ingenieurskunst. Gegenüber dem Ideenwettbewerb ist das Tragprinzip der Glasfassade aus finanziellen Gründen von einer Seilkonstruktion zu einer Glasinnenkonstruktion geändert worden. Die neue Ganzglasfassade wurde vom Architekten Siegmar Lungwitz entworfen. Vom Büro glasfaktor Ingeniere aus Dresden sind statische und konstruktive Details im Rahmen einer ZiE gelöst worden. Die Aussteifung der vierseitigen Glasfassade erfolgt über die massive innere Raumschale. Das Besondere ist, dass die riesigen bis zu 840 kg schweren Fassadenscheiben nicht durch eine metallische Pfosten-Riegelkonstruktion getragen werden – wie von Vertretern des Bauherren favorisiert – sondern auf 13 m freispannende Glasschwerter geklebt sind. Das Glas ist das tragende Element. Ziel war eine möglichst transparente und homogene Fassadenfläche. Eine herkömmliche Pfosten-Riegel-Fassade mit Deckleisten wäre den hohen Anforderungen an das Design der Außenhülle nicht gerecht geworden. RAICO wurde bereits in der Vorplanungsphase von den glasfaktor Ingenieuren ins Boot geholt. Zusammen wurde eine spezielle Glasaufsatzkonstruktion entwickelt: Mit einer Flachpressleiste, welche über eine spezielle Kantenfräsung in der Glasoberfläche versenkt wird, kann eine glatte und homogene Fassadenoberfläche garantiert werden. Die RAICO-Aufsatzkonstruktion ist über ein Edelstahl-U-Profil mit dem Glasschwert verklebt. Von außen sind weder Leisten noch ein einziges Schräubchen sichtbar. Eine äußerst elegante Lösung, bei der die Glasoberfläche völlig glatt ist und die RAICO-Profile zwischen den einzelnen Scheiben unsichtbar bleiben.

Fast ein dreiviertel Jahrhundert ist seit der Bombennacht auf Dresden vergangen. Was damals in einer Nacht zerstört und unter dem DDR-Regime vollends vernichtet wurde, bleibt für immer zerstört. Jetzt erinnert die Gedenkstätte Busmannkapelle an den Missbrauch von Macht im Dritten Reich und in den 40 Jahren danach. Die Gedenkstätte ist Mahnmal und Begegnungsstätte in einem, ein Ort der Zusammenkunft und des Friedens, ein Platz zum Nachdenken.

Bild: Arnold Glas
Bild: Arnold Glas